Die meisten Krankenkassen wollen Sondertarif nicht mehr zahlen
Wie der grösste Schweizer Kindernotfall ums Überleben kämpft

80'000 Kinder behandelt Swiss Medi Kids jährlich. Jetzt ist der grösste Kindernotfall der Schweiz in bedrohliche Schieflage geraten. Aus juristischen Gründen. Eine Geschichte über die Rolle der Krankenkassen, Behörden und die akute Versorgungskrise in der Kindermedizin.
Publiziert: 21.10.2024 um 01:01 Uhr
|
Aktualisiert: 21.10.2024 um 16:58 Uhr
1/7
80'000 Behandlungen hat der Kindernotfall Swiss Medi Kids letztes Jahr durchgeführt.
Foto: zvg

Auf einen Blick

  • Ein Bundesgerichtsurteil könnte Swiss Medi Kids das Genick brechen
  • Schwarz-Peter-Spiel zwischen Krankenkassen und Behörden
  • Tausende Eltern verunsichert, weil Kosten auf Kinder-Notfall nicht mehr gedeckt
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
THM_0348.jpg
Rolf CavalliStv. Chief Content Officer

Katja Berlinger (50) kämpft in diesen Tagen um Sein oder Nichtsein ihres Lebenswerks Swiss Medi Kids. Und um die Versorgungssicherheit von Tausenden von Kindern, welche die grösste Kinderpermanence der Schweiz mit Niederlassungen in Zürich, Winterthur und Luzern behandelt – 80'000 jährlich. Trotz steigender Nachfrage von Eltern ist Swiss Medi Kids in seiner Existenz bedroht. Was ist passiert?

Der Hammer kam für Swiss-Medi-Kids-Geschäftsführerin Berlinger letzten Juli. Laut zwei neuen Bundesgerichtsurteilen dürfen Walk-in-Praxen mit angestellten Ärzten keine Notfall- und Dringlichkeitspauschalen abends und an den Wochenenden mehr abrechnen. Die eine oder andere Permanence überlegte sich wegen des Urteils deshalb, die Öffnungszeiten zu reduzieren. Für einen Kindernotfalldienst ist die Situation aber viel dramatischer. Denn über die Hälfte aller Konsultationen finden an Wochenenden oder abends statt.

Ohne Notfallpauschalen droht der Konkurs

«Wir respektieren das Arbeitsgesetz und schliessen die Zuschläge für die Abend- und Wochenendarbeit in unsere Saläre ein», sagt Berlinger. Die Gewinnmarge von Swiss Medi Kids in der ohnehin unterfinanzierten Kinder- und Jugendmedizin sei zu klein, um ohne die Notfallpauschalen der Krankenkassen überleben zu können. Konkret geht es um rund 1,5 Millionen Franken, die Swiss Medi Kids in der Kasse nun fehlen. Das entspricht 14 Prozent der Gesamteinnahmen. Damit werden die Löhne von 140 Angestellten, Mieten etc. bezahlt.

Unbestritten ist: Swiss Medi Kids entlastet die Gesundheitskosten. Denn eine Behandlung in der Kinderpermanence kostet nur halb so viel wie in den spitaleigenen Notfallstationen. Dies sei Dank ihrer schlanken Struktur möglich, so Berlinger.

Fallen die Notfallpauschalen ersatzlos weg, bricht das Swiss Medi Kids das Genick. Der grösste Kindernotfall der Schweiz müsste Konkurs anmelden oder in Nachlassstundung gehen. Berlinger verhandelte in den letzten Wochen pausenlos mit den Krankenkassen und dem Kanton Zürich über eine Rettung, auch das Bundesamt für Gesundheit war involviert.

Schwarz-Peter-Spiel um Kindernotfall

Die Akteure sind sich zwar einig: Swiss Medi Kids ist wichtig für die Versorgungssicherheit von Kindern. Doch hier beginnt das Schwarz-Peter-Spiel. Verhandelt hat Berlinger unter anderem mit Tarifsuisse, einem Unternehmen des Verbandes Santésuisse. Sie hätten sich «intensiv um eine Lösung bemüht, leider erfolglos», sagt Tarifsuisse-Geschäftsführer Roger Scherrer. «Swiss Medi Kids fordert eine Sicherung ihres bisherigen Ertragsniveaus durch eine massive Tariferhöhung zulasten der Versicherten. Das ist kein gangbarer Weg.» Tarifsuisse fordert Swiss Medi Kids auf, kostenbewusst zu handeln und das Geschäftsmodell an die «neuen Rahmenbedingungen» anzupassen.

Dafür sieht Berlinger keinen Spielraum: «Wir sind ja schon günstiger als die anderen. Es ist nicht realistisch, dass meine Mitarbeiter eine Lohnsenkung akzeptieren und trotzdem weiterhin an Abenden, Wochenenden und Feiertagen für die Patienten da sind.»

Swiss Medi Kids hat auch den Kanton Zürich um Hilfe angefragt. Doch die Zürcher Gesundheitsdirektion von Regierungsrätin Natalie Rickli (47) sieht «keine Rechtsgrundlage für eine finanzielle Unterstützung», wie sie Blick mitteilt. Für ambulante Leistungen komme die Bevölkerung mit ihren Prämien auf. Ricklis Departement verweist auf das Bundesgerichtsurteil und betont, es sei nicht Aufgabe des Kantons, «Unzulänglichkeiten einer veralteten Tarifstruktur zu tragen». Für diese sei in letzter Instanz der Bundesrat verantwortlich. Man erwarte von den zuständigen Tarifpartnern, dass sie gemeinsame Lösungen im Interesse der Patientinnen und Patienten finden.

Hoffnung dank zwei grossen Kassen

Tatsächlich: Im Verlauf der letzten Woche konnte Berlinger einen Teilerfolg erkämpfen und mit zwei grossen Krankenkassen – CSS und Swica – einen sogenannten Managed-Care-Vertrag mit kostendeckenden Tarifen abschliessen. Damit kann sie die Löhne weiterzahlen und den Betrieb sichern. Vorläufig. Denn über dem Berg ist die Kinderpermanence nicht. Erst rund 40 Prozent der eingebüssten Notfallpauschalen sind mit CSS und Swica wettgemacht.

Berlinger strebt nun weitere Verträge mit möglichst vielen Krankenversicherern an, «damit wir möglichst viele Kinder behandeln können». Mit anderen Worten: «Wir wollen vermeiden, dass wir Patienten von einzelnen Versicherern abweisen müssen.»

Verunsicherung bei Eltern: Zahlt Kasse nicht mehr?

Betroffen wären Tausende von Eltern mit ihren Kindern, die bei einer der Krankenkassen sind, die derzeit keine neue Abmachung mit Swiss Medi Kids haben. Ausweichen ist schwierig. Spital-Notfälle sind chronisch überlastet, Kinderarzt-Praxen werden überrannt. Allein auf dem Platz Zürich ist Swiss Medi Kids mittlerweile systemrelevant. Die Kindernotfallpraxis hat mit über 43'000 ambulanten Konsultationen fast so viele wie das Kinder-Universitätsspital.

«Es kommt jede Krankenkasse günstiger, wenn ihre Kunden zu uns kommen statt ins Spital gehen», sagt Berlinger. Sie hofft, mit diesem Argument in den nächsten Wochen noch viele Versicherer überzeugen zu können, mit Swiss Medi Kids einen Vertrag abzuschliessen. Möglichst vor Ende November. Bis dahin können die Prämienzahler fürs nächste Jahr noch ihre Grundversicherung wechseln.

Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?